François Jacob (Zunge rausstreckend) und Jacques Monod (rauchend) im Institut Pasteur, 24 Februar 1971. (credits: AFP/Getty Images)

Die epistemologischen Jahre

Molekulargenetik und Poststrukturalismus in Frankreich, 1965-1975

Onur Erdur

Das Dissertationsprojekt befasst sich mit der Rezeptionsgeschichte molekulargenetischen Wissens im philosophischen Diskurs Frankreichs zwischen 1965 und 1975. Ziel ist es aufzuzeigen, inwiefern sich poststrukturalistische Referenzautoren wie Michel Foucault, Gilles Deleuze, Michel Serres und Georges Canguilhem an Denkmodelle angelehnt haben, die im Bereich der modernen Biologie entwickelt wurden. Die Bedeutung, die die epistemologische Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Wissensbeständen für die Theoriebildung der französischen Philosophie der Nachkriegszeit hatte, wurde bisher geschichtswissenschaftlich und philosophiegeschichtlich nicht herausgearbeitet. Der Geschichte der Wissenstransfers zwischen Biologie und Philosophie will das Projekt anhand einer historischen Fallstudie nachgehen. Im Mittelpunkt stehen die beiden Biologen François Jacob und Jacques Monod, die 1965 den Nobelpreis für Medizin und Physiologie erhielten. Beide galten aufgrund ihrer Forscherkarrieren am Institut Pasteur und ihrer Lehrstuhlverpflichtungen am Collège de France als die genuinen Repräsentanten der damals aufkommenden molekularbiologischen Wissenschaft. Die 1970 erschienenen Publikationen Le hasard et la nécessité (Monod) und La logique du vivant (Jacob) lösten breite Resonanzen bei zahlreichen französischen Philosophen und Sozialwissenschaftlern aus. Ihre Spuren reichen bis ins Jahr 1975 und sollen im vorliegenden Projekt quellenkritisch aufgearbeitet werden. Aufbauend auf dieser Fallstudie fokussiert die Arbeit darauf, den Rezeptionsvorgang in seinen unterschiedlichen Filiationen zu beschreiben, nach den Hintergründen bzw. Intentionen des Aneignungsprozesses zu fragen und die Reichweite und philosophische Aussagekraft dieses biologischen Wissens zu bestimmen. So soll z.B. ausgehend von einer Beschreibung der Rezeptionslinie François Jacob – Michel Foucault der Versuch unternommen werden, Foucaults Aussagen zur „Genealogie“, zum „Zufall“, zum „Leben“ oder zum „Tod des Menschen“ im Lichte der Molekulargenetik zu lesen.

Vor diesem Hintergrund einer Wissensgeschichte der französischen Philosophie stellt sich auch die Frage nach den historischen Bedingungen, unter denen sich naturwissenschaftliches Wissen und intellektuelle Theorieproduktionen begegneten. Die Rezeptionsgeschichte soll deshalb in Beziehung gesetzt werden zur französischen Schule der Épistémologie; jener Tradition, in die sich alle hier behandelten Protagonisten für eine bestimmte Zeit eingeschrieben hatten. Ausgehend von Gaston Bachelards Diktum, wonach es die Wissenschaft sei, die die Philosophie hervorbringe („La science crée de la philosophie“), fragt die geplante Arbeit, inwiefern wissenschaftliches Denken selbst zum konstitutiven Gegenstand philosophischer Reflexion wurde und welche historische Rolle die Molekulargenetik als das epistemologische Ereignis der 1960er und 1970er Jahre für die Formationsgeschichte des französischen Poststrukturalismus spielte.


Buch erschienen in der Reihe Interferenzen.