Entwicklungswissen

Technologie und Wissenschaft in der globalen Entwicklungskultur seit 1945

Daniel Speich Chassé

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich ein komplexer Betrieb der Entwicklungszusammenarbeit formiert, der in vielerlei Hinsicht wirklichkeitsprägend ist. Das Forschungsvorhaben will einen Beitrag zum Verständnis der Entstehung und der Funktionsweise dieses Entwicklungsbetriebes leisten. Es setzt in den 1940er-Jahren ein und rekonstruiert den Übergang von kolonialen Entwicklungsanstrengungen zur postkolonialen Implementation des keynesianischen Wohlfahrtsstaates, die für die Westmächte ein Aktionsfeld des Kalten Krieges darstellte und den Eliten der neuen Staaten als Perspektive nationaler Emanzipation diente.

Das wachsende Misstrauen gegenüber staatlicher Macht im Zuge der 68er-Bewegung, die neoliberale Kritik am Wohlfahrtsstaat, der grundsätzliche Zweifel an technokratischen Machbarkeitsvorstellungen und eine fundamentale Technikkritik bedeuteten schwere Schläge für das Entwicklungsunternehmen. Vor allem aber grenzte die Auflösung des Systems von Bretton Woods und die damit verbundene Deregulierung der Weltwirtschaft die Möglichkeit massiv ein, den Entwicklungspfad kleiner Volkswirtschaften politisch zu steuern. Und schliesslich entfiel mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion auch das Gebermotiv der Systemkonkurrenz. Überraschenderweise hatte aber die internationale Entwicklungskultur über alle diese Brüche hinweg Bestand und differenzierte sich sowohl praktisch als theoretisch weiter aus.

Das Forschungsprojekt fragt nach den Gründen für diese Persistenz. Hierzu verfolgt es die Entstehung entwicklungsbezogener Institutionen auf der internationalen Ebene sowie exemplarisch den Kontext eines Empfänger- und eines Geberlandes. Es fragt nach Interdependenzen zwischen diesen drei Bereichen sozialer Wirklichkeit und rekonstruiert die Entstehung einer neuen kosmopolitischen Kultur, die im Sinne von Ulf Hannerz als New Tribe verstanden wird. Während die Existenz dieser Entwicklungskultur durch politisch, humanitär oder ökonomisch motivierte Geldflüsse gesichert wurde, fand sie ihren kulturellen Existenzmodus in der Schaffung, Verbreitung und Reformulierung von sozialwissenschaftlichen und technischen Wissensbeständen. Ende der 1960er-Jahre – dies ist die These – hatte sich die Entwicklungs­kultur soweit stabilisiert, dass die skizzierten Probleme produktiv in neue Entwicklungsherausforderungen umformuliert werden konnten. Diese Adaptionsleistungen werden in den gleichen drei Beobachtungsfeldern exemplarisch rekonstruiert. Dabei zeigt sich, dass zwar die Geldströme klar gerichtet waren, die Wissensflüsse aber sehr viel komplexer verliefen. Mit der Entwicklungskultur ist ein weltumspannender Referenzrahmen entstanden, auf den Akteure unterschiedlichster Herkunft sowohl in Empfängerländern als auch in Geberländern ihre Handlungen ausrichten. Insofern – so eine weitere These – hat die Ausbreitung des Entwicklungswissens eine Form von kultureller Globalität hervorgebracht, die nicht territorial gebunden ist, sondern sowohl in den metropolitanen Zentren als auch an deren Peripherie wurzelt und wirkt.