Eine Lehrerin in Neuchâtel verteilt ihren Schülern 1940/41 Vitamin C

Vitamin C

Der schweizerische Weg zur Vitamin-C-Synthese

Die "Reichstein-Synthese", welche die Ära der weltweiten industriellen Vitamin-C-Synthese (L-Ascorbinsäure) eröffnete, ist sowohl in ökonomischer als auch in - wie man heute sagen würde - biotechnologischer Hinsicht epochemachend. Dass aber die Vitamin-C-Synthese im grosstechnologischen Massstab ein ökonomisch interessantes Verfahren für die Chemische Industrie geworden ist, und dass dieser pharmazeutischen Innovation ein durchschlagender Erfolg beschieden sein sollte, ist höchst erklärungsbedürftig. Dies gilt auch ganz besonders für die Tatsache, dass Hoffmann-La Roche während Jahrzehnten zum weltgrössten Produzenten von synthetischem Vitamin C (wie auch von B1 und E) geworden war. Denn selbst nachdem es 1933 in den Labors der ETH gelungen war, Vitamin C zu synthetisieren, waren noch zahlreiche Hindernisse zu überwinden, bis in den Fabrikhallen von Roche Vitamin C industriell produziert wurde. Und obwohl Hoffmann-La Roche bereits 1933 die Patentrechte für die Ascorbinsäure-Synthese von Tadeus Reichstein erworben und mit grossem Aufwand in die "Proportionen der Technik" zu übersetzten begonnen hatte, waren die "Vitaminerfolge" noch 1946 für Emil Barell, langjähriger Direktor der Hoffmann-La Roche, "überraschend".
Aber warum erschienen diese "Vitaminerfolge" den Zeitgenossen in den 1930er und 1940er Jahren so unwahrscheinlich? Ein Anhaltspunkt dafür findet sich etwa in dem von Gottlieb Duttweiler herausgegebenen Buch zur Landi 1939. Hier wurde die Abbildung des von Roche an der Landi ausgestellten Modells der Ascorbinsäure-Fabrikationsanlage (im Massstab 1:10) mit der viel sagenden Legende versehen: "Mit einem imposanten Aufwand an Intelligenz und Technik gelingt dem Menschen annähernd, was die Natur mühelos und für die Bedürfnisse des Lebens richtig dosiert, hervorbringt. Beispiel: Die bescheidene Hagebutte enthält reichlich und fixfertig das ansteckungswidrige Vitamin C (Ascorbinsäure), zu dessen industrieller Herstellung eine sinnverwirrende, stockwerkfüllende Maschinerie nötig ist, wie sie in diesem Modell an der LA gezeigt wurde." Die Zeitgenossen waren also reichlich verwundert über den enormen technischen Aufwand, der betrieben wurde, um etwas industriell zu produzieren, was die Natur problemlos herzustellen vermochte. Zudem zeigt diese Verwunderung, dass auf der Nachfrageseite ein beachtlicher Wandel stattgefunden haben musste, bis das industriell produzierte Vitamin C tonnenweise verkauft und konsumiert werden konnte. Denn das synthetische Vitamin C trat seinen Siegeszug an, obwohl die Nachfrage in den 1930er Jahren als äusserst gering eingeschätzt wurde und eine eindeutige medizinische Indikation zur therapeutischen Anwendung synthetischer Vitamine fehlte.
Was muss man verstehen, und was muss man deshalb untersuchen, damit die Überraschung über den Erfolg dieser Technikgenese im Bereich der Biotechnologie, der life sciences und des functional food abgebaut werden kann? Und welches waren die Gründe für Roche, in jener krisenhaften Zeit der 1920er und 1930er Jahre ein hohes unternehmerisches Risiko zur Industrialisierung eines Verfahrens einzugehen, das zunächst nur in Labors eine Rolle spielte? Es sind im Wesentlichen drei Beobachtungsfelder, deren Analyse Hinweise für die Gründe dieser Erfolgsgeschichte liefern können: Hochschulen, Unternehmen und Nachfragemarkt.