Soziotechnischer Wandel im historischen Kontext
Prof. David Gugerli
Einführung in Probleme und Fragen der Technikgeschichte
Sowohl die Humanwissenschaften wie auch die Ingenieurwissenschaften fallen bei ihren Modellierungen technischen Wandels oft einem Denkfehler zum Opfer: Das jeweils Unvertraute - für die Humanwissenschaften die Technik und für die Technikwissenschaften die Gesellschaft - behandeln sie leichten Herzens beispielsweise als externen Faktor ("mit der Einführung der Dampfmaschine"), als Marktversagen ("die Zeit war noch nicht reif"), als unerwartetes Ereignis ("die Computerrevolution verändert alles") oder als interpretative Fehlleistung ("niemand erkannte das Potential der Erfindung"). Der Begriff des soziotechnischen Wandels soll darauf hinweisen, dass technischer und gesellschaftlicher Wandel nur als koevolutive Prozesse verstanden werden können und deshalb in unterschiedlichen Kontexten ganz unterschiedliche Dynamiken aufgewiesen haben. Vorlesung und Kolloquium werden unter diesen begrifflichen Voraussetzungen und an ausgewählten Fallbeispielen eine Einführung in die Probleme und Fragen der Technikgeschichte vermitteln.
Die Lehrveranstaltung ist Teil des D-GESS Schwerpunkts "Wissenschaft, Technik und Gesellschaft".
Semesterprogramm
24.10.2000
Wozu Technikgeschichte
Apologie technikhistorischer Fragestellungen
Geschichte - wozu?
Revitalisierung der Geschichte
Technikgeschichte - wie?
Ehrfahrungsraum / Erfahrungshorizont / Selbstverständlichkeit
Problemstellungen der Technikgeschichte
Einführung - wie?
Aufbau der Vorlesung
31.10.2000
Wunschmaschinen - Welterfindung
Utopien und Leitbilder soziotechnischer Entwickung
- Das Argument
- Beobachtungsebenen Utopie / Beobachtungsebenen Distopie
- Maschinenmenschen ... Maschinengesellschaft im 18. Jh.
- Fallstudie: Visionäre Wohnmaschinen
- Kritik an der gebauten Moderne - Die Motivation - Ideen-Recycling - Die Vor-Bilder
- Wohnen als Konsumgut
- Plug-in Capsule Home Project - WohnRaumKapseln - Living-Pod - Gasket Homes 1965
- Der Plug-in Turm - Die Plug-in City - Das Cushicle - Suitaloon als Mini-Haus
- Blow-out-City - Walking-City - Instant-City
- Vision Urbanität
07.11.2000
Fällt aus wegen einer Tagung auf dem Monte Verità
14.11.2000
Unfälle und Katastrophen
Regulierungsstrategien und Institutionalisierungszwänge
- Unfallkategorien: Merkwürdigkeiten - Inspirierendes - Spektakuläres - Betroffenheit / Fassungslosigkeit / Schicksal / Tragik / Politische Ökonomie
- Kategorisierungskritik am Beispiel Tschernobyl 1986: Kategorisierung funktioniert nicht, weil die Unterschiede eben gerade nicht in den Unfällen selber zu suchen sind, sondern als unerwartetes Ereignis in der Umwelt eines soziotechnischen Systems zu bestimmen sind
- Drei Interpretationsmuster (Störung der Normalität und Wohlstandspreis; Ausdruck eines zynischen Profitkalküls; Unfall als misslungenes technology assessment)
- Begriffsklärungen: Unfalle als Erwartungsenttäuschungen eines soziotechnischen Systems
- Erwartungshorizont und Reaktionsmöglichkeit des Systems definieren die Wirkung von Unfällen
- Die Analyse von Unfällen führt zur Gesellschaftsanalyse unter den Bedingungen technischen Wandels
- Die Anlyse von Unfällen führt zur Technikanalyse unter den Bedingungen gesellschaftlichen Wandels
- Die Möglichkeiten eines Systems, auf unerwartete Ereignisse zu reagieren, hängen von kommunikativen Leistungen eines Systems ab
- Anpassungsleistungen sind also historisch bedingt
- Beispiel Telefonzentralenbrand in Zürich 1897
- Presseecho (Medienwirksamkeit und katalytisches Ereignis; Kontext: Elektrifizierungsboom der 1890er Jahre / Geringer Differenzierungsgrad der Sicherheitsnormen / Fehlen einer gut organisierten Profession / Tiefer Selbstbeschreibungsgrad der technischen Systeme (Statistik, Karten, Planungsinstrumente) / Städtische Infrastrukturpolitik bei mangelnder Koordination verschiedener technischer Systeme (Gas, Telefon, Wasser, Strom, Transport, insbesondere aber Starkstrom und Wechselstrom)
- Regulierungsstrategien: Telephonzentralenbrand löst eine nationale Debatte aus über Sicherheitsstandards, Rechtliche Rahmenbedingungen, Professionalisierung, Bildung und Ausbildung, Institutionalisierung der Aufssicht, statistische Beschreibung
- Institutionalisierungzwang: Starkstromgesetz 1902, mit prominenter Rolle des SEV und des VSE (Selbstkontrolle mit bundesgesetzlichem Auftrag); Starkstrominspektorat; neue Curricula an ETH und Technica; Überführung der Starkstromanlagenstatistik in die Statistische Jahrbuch des Bundes; Mischung aus normativen Sanktionen und kognitiven Lernprozessen führt zu Anpassungsleistungen
- Beispiel Einsturz der Eisenbahnbrück bei Münchenstein 1891
- Materialprüfungswesen: Münchensteiner Unfall als Katalytisches Ereignis für Veränderung der Organisationsstruktur im Eisenbahnwesen, Denunziation der politischen Ökonomie des spekulativen Bahnbaus, Etablierung der Materialprüfung in der Schweiz, neue Vorschriften für den Brückenbau, neue Vorschriften für den Bahnbetrieb im Kontext der Verstaatlichung / Professionalisierung
- EMPA
21.11.2000
Säulenheilige der Kultur?
Die Erfinderfigur zwischen Geniekult und Professionalisierungsdruck
- Das Argument: Der im ausgehenden 19. Jahrhundert feststellbare Geniekult um Erfinder ist Ausdruck a) einer soziokulturellen Imitation des bildungsbürgerlichen Habitus durch Ingenieure und Techniker, die dadurch eine erfolgreiche Distinktionsstrategie übernehmen und sich „salonfähig“ machen, b) der gesellschaftlichen Verarbeitung des zunehmenden Professionalisierungsdrucks auf Ingenieure und Techniker, der sich aus Komplexitätssteigerungen am Übergang von der ersten zur zweiten Industriellen Revolution ergeben hat, c) der Verwissenschaftlichung und Akademisierung des Ingenieurberufs
- Das geniale Erfinder wird so Teil des bürgerlichen Leistungssyndroms und des Fortschrittsglaubens und kann trotz funktionaler Differenzierung, trotz sozialer Mobilität und trotz zunehmender Arbeitsteilung in Forschungs- und Entwicklungsprozessen an kulturelle Praktiken der bürgerlichen Gesellschaft anschlussfähig gehalten werden.
- Der Säulenheilige
- Das Genie – Leitfigur im 19. Jh.
- Der Wissensträger
- Bürgerlichkeit: Bildungsbürgerlicher Habitus erfolgreicher Techniker / Ingenieure: akademisches Selbstverständnis inklusive Titel / bürgerliche Öffentlichkeit (Publikationen) / Vereinskultur / Bibliotheken / Kunstsammlungen / Wohnkultur / Reisen (inklusive Tagebuch) / Autobiographie (selten) / Leistungsorientierte soziale Mobilität / Zivilreligion des Fortschritts verstanden als soziotechnischer Fortschritt / Übergang ins Unternehmertum als Lebensziel
- CELebrated Brown
- F&E-Laboratorien: Menlo Park / Parvenus der Moderne / Bürokratisierte Industriearbeit / Professionalisierung / Akademisierung / Historisierungen
- Maschinen, Erfinder, Kulturdenkmale / Vorbilder (z.B. Arnold Böcklin
- Kulturfaktor Technik / Technikentwicklung und kultureller Fortschritt
- Der Beweis I: Das Patent / Der Beweis II: Der Erfolg
28.11.2000
Männer vieler Eigenschaften
Ingenieure als Systembuilder
- Das Argument:
- Das System builder Konzept von Thomas P. Hughes hat neue Beobachtungsfreiheiten ermöglicht
- Koordinationsfunktionen treten in den Vordergrund
- Kontextualisierung wird ernster genommen
- Brücken zwischen „Kultur und Technik“ werden analytisch begehbar gemacht
- Idealtypische system builders sind für Hughes Thomas Edison (!), Emil Rathenau, Walther Rathenau, Samuel Insull
- Das Konzept ist damit sehr stark anhand der Verhältnisse der elektrotechnischen Industrie entwickelt worden (vgl. Helliges Kritik)
- Der letztlich immer noch biographische Zugriff verschüttet kritischere Potentiale des system building Konzepts
- Die Verbindung mit dem Begriff des „Grosstechnischen Systems“ verschliesst den Blick auf gewaltige Heterogenitäten dieser Systeme und auf system building in „traditionelleren“ Industriebereichen
- Anhand von Walther Rathenaus Biographie lässt sich die Netzmetapher auch als Zivilisationskritik lesen; daraus folgen neue Einblicke in das Verhältnis von Kultur und Technik in der Moderne
- Spinnengewebe der Moderne
- System builders (Thomas P. Hughes)
- Walther Rathenau: Ingenieur, Wirtschaftsmagnat, Philosoph, Politiker
- Technik als Bezugssystem, Machtressourcen, system building (Hughes)
- Gesellschaftliche Verflechtungen - Mechanisierung der Welt
- Helliges Kritik - Technikleitbild, Organisationstalent,
- Netzmetaphorik revisited - Kultur und Technik
05.12.2000
Invention-Inovation-Diffusion
Der Schumpetersche Dreisprung als Motor der Wirtschaft
- Das Argument:
- Der Schumpetersche Innovationsbegriff, der an die idealtypische Figur des Unternehmers gebunden wird, öffnet den Blick für endogene Gründe wirtschaftlichen und technischen Wandels
- So problematisch einige mechanistische Modellierungen (Invention-Innovation-Diffusion, Anbindung an Lange Wellen, künstliche Differenzierung zwischen Basis- und Verbesserungsinnovationen) auch sind, so grundlegend und weitreichend sind die von Schumpeter aufgeworfenen Fragen nach Bedingungen gesellschaftlicher Lernprozesse, welche von Innovationen ausgehen oder diese ermöglichen
- Die Modellierung von technischem Wandel als einem kollektiven Lernprozess führt zusammen mit einer Bedeutungsaufwertung der Verbesserungsinnovationen zur Kritik am Basisinnovationskonzept
- Lernprozesse, Aufmerksamkeitsregeln, Institutionen, Rekombinationsformen, Verhandlungsarenen, lokale Pfadabhängigkeiten und diskursive Muster ersetzen den analytischen Ort des Schumpeterschen Unternehmers
- Joseph A. Schumpeter 1883-1950: Dynamische Volkswirtschaft / Empirische Beobachtungen / Kreative Zerstörung / Der Unternehmer – ein Idealtyp
- Innovationsarten
- Basisinnovationen und Lange Wellen
- Nur Inkrementelles?
- Kontroverse1: Voraussetzungen?
- Kontroverse 2: Brüche?
- Kontroverse 3: Betriebsart?
- Kontroverse 4: Konjunkturen?
- Not macht erfinderisch?
- Institutionen und Krisen
- Der missglückte Dreisprung ... in die verteilten Innovationen?
12.12.2000
Reine Technik
Nationale Technikstile im politischen Kontext (Zum Einstieg ins Thema)
- Leichte Rede von der reinen Technik
- Zum Beispiel Volkswagen-Metamorphosen
- Ideologieproduktion
- Das unproblematische und unpolitische Wesen der Technik?
- Albert Speer, Dipl.-Ing, Architekt
- Lebenslauf 1-5
- Architektonische Reinheit
- Gespaltener Ingenieur
- Reaktionärer Modernismus
- Rüstungsproduktion
- „Scheinbare moralische Neutralität“
- Instrumentalisierung der Technik
- Technisierung der Diktatur
- Die Über-Macht der Technik
- Schwierigkeiten und Klippen
Kolloquium: Patrick Kupper
Dienel, Hans-Liudger 1992. Eis mit Stil: Nationale Technologische Stile in der deutschen und amerikanischen Kältetechnik 1850-1950. In Gerd Hurle et al. (Hg.), Technik-Kultur-Arbeit. Dokumentation einer Tagung. Berlin: Schüren, S. 35-53
19.12.2000
Karrieren technischer Artefakte I
Kollektives Gedächtnis zwischen Erzählung und Objekt
- Narrative und Artefakte / Karriere von Artefakten / Das Objekt im Museum
- Rekonstruktionsprozesse:
- Rekonstruktion des historischen Kontexts:
- Schiffahrttechnik
- Sozialgeschichte der Schiffahrt
- Repräsentationsformen und Herrschaftstechnikdes Frühabsolutismus
- Kriegstechnik im 30jährigen Krieg
- Rekonstruktion des historischen Objekts
- Taucher-Technik im Wandel
- Hebetechnik im 20. Jahrhundert
- Archäologie
- Restaurationstechnik
- Darstellungsformen
- Multimedia (CD, Video, Sonderausstellungen, Bücher etc.)
09.01.2001
Karrieren technischer Artefakte II
Autodynamische Wachstumslogik oder Anschlussfähigkeit? (Zum Einstieg ins Thema)
- Wachstumslogik als Geschichte?
- Moore’s Law (Beschreibung)
- Moor‘s Law (Kritik)
- Empirischer Befund? Self-fulfilling prophecy? Stabilisierte Erwartungen / Koordinationsfunktion in der Chip-Industrie / Kundenseite? Zulieferer? Grenzen des Wachstums? Gates's Law?
- Ein PC ist kein PC
- Mac - PC - Graben / Benutzerkontexte (gesellschaftlich): Chefetage, Börse, Flughafen, Kinderzimmer, Labor, Fabrik / Hardware-Software-Wetware-Differenzen / Rechenmaschine - Schreibmaschine - Informationsbehälter - Musterlieferant - Kommunikationsschnittstelle - Spielkonsole - Steuerungseinheit etc.
- Werbekampagnen
- Der 1960er Jahre Mythos
- Crowd control / Pentium-Snail
- 1984 Macintosh Add (vgl. http://www.uriah.com/apple-qt)
- Super Bowl 1983 / Gorge Orwell / The medium is the message / Big Brother / Big Blue? / Gender / Power-Begriff / Power-Darstellung / Kommerzialisierung
- Ambivalenz der "Power"-Begriffe
- Spike Lee (Malcolm X / Levi's Button-Fly 501 Werbung) / Konsumentenmacht / Selbstsbestimmung / Individuelle Veränderung und Anpassung
16.01.2001
Die Macht der Homöostase
Kybernetische Modellierung soziotechnischer Systeme
- Fragen an eine Erfolgsgeschichte
- Ökologische Gewissensaufrüstung oder Reiz-/Reaktionsmuster?
- Selbstverständlichkeit des Erfolgs?
- Kostenseite – gesellschaftliche Prioritäten und Präferenzen – kommunikative Prozesse
- Die Kläranlage im Schnittpunkt heterogener Interessenkonstellationen
- Semantik und Diskurse
- Heimatschutz / Naturschutz
- Erhaltung eines gesunden Lebensraumes – Schweizerischer Charakter
- Binär strukturierte semantische Kodierungen
- Ästhetisierung der Landschaft 18. – 20. Jh.
- Erfahrungskontraste
- Sportfischer
- Kulturzerfall und Schönheit der Landschaft
- Störung des biochemischen Gleichgewichts – Verlust der Selbstreinigungskraft der Gewässer – Gefährdung der Volksgesundheit
- Freizeitkultur und Eskapismus – Sensoren in freier Natur – Verdrängungsprozesse in den Gewässern
- Bedrohungsmetaphorik – Verteidigungsdiskurs – Hans Ernis Wassertod
- Institutionelle Innovationen
- Schwindende Interpretationsflexibilität – produktive Einschränkung der Handlungsoptionen
- Gesetzgebung und Verordnungen
- Wissenschaftliche Definition von sauberem Wasser – Grenzwerte
- Komplementarität von politischer und wissenschaftlicher Kommunikationskultur
- Gemischtwirtschaftlich-kooperative Lösung
- Kanalisierung von Aufmerksamkeiten – Bürokratisierung – Richtlinien – juristische Normalisierung
- Pro-Aqua-Ausstellung – Technikevaluation und Normierung der Lösungen
- Bundesstaatliche Steuerungseuphorie ...
- Problemregulierende Funktion des Bundesstaates
- Trittbrettfahrer-Problem – kommunalpolitischer Koordinationsdruck
- Triggerfunktion der Bundessubventionen
- Planungs- und Steuerungseuphorie
- Das kybernetische Zeitalter
- ... und Homöostase der Werte
- Gleichgewicht, Homöostase, Regulierung, Planung, Steuerung und Kreislaufmodelle
- Walter B. Cannon – Talcott Parsons – Niklas Luhmann
- Stabilisierung natürlicher und kultureller Werte
Diskussionsgrundlage: David Gugerli, "Wir wollen nicht im Trüben fischen!" Gewässerschutz als Konvergenz von Bundespolitik, Expertenwissen und Sportfischerei (1950-1972), in: SI+A Schweizer Ingenieur und Architekt, 31. März 2000. (PDF)
Kolloquium: Reto Spring
Tanner, Jakob 1998. "Weisheit des Körpers" und soziale Homöostase. Physiologie und das Konzept der Selbstregulation. In Philipp Sarasin und Jakob Tanner (Hg.), Physiologie und industrielle Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, S. 129-169
23.01.2001
Hybride Technik I
Cyborgs als Paradigmenwandler (Barbara Orland)
- Natur-Kultur/ Natur-Technik: Das beharrliche Interesse an klaren Grenzen
- Denkmodelle zur Mensch – Maschine – Beziehung
- 50er Jahre: Der Turing-Test.
- Der ELIZA-Effekt – Computer als Psychotherapeuten
- Chronik des Cyborg Begriffes
- Technokörper und Biopolitik
- Feministische Interventionen
- Wer ist Donna Haraway?
02.02.2001
Hybride Technik II
Diskursanalytische Zugänge
06.02.2001
Soziotechnischer Wandel