Der Historiker Winfried Schulze unterzog 1992 die Quellengattung des „Schreibens über sich selbst“ einer kritischen Bestandsaufnahme und plädierte dafür, sie künftig zu erweitern. Tagebüchern und Autobiographien stellte Schulze so genannte Ego-Dokumente zur Seite, die „Aussagen oder Aussagepartikel“ enthielten, die Auskunft geben „über die freiwillige oder erzwungene Selbstwahrnehmung eines Menschen in seiner Familie, seiner Gemeinde, seinem Land oder seiner sozialen Schicht“. Darunter fielen namentlich auch Dokumente, die von Gerichten und Verwaltungen produziert wurden. Diesen Dokumenten gilt ein kulturwissenschaftlich-historisches Interesse, weil sie Formate sind, die sowohl über Öffentliches als auch über ein Ich erzählen. Das Ich des lebensgeschichtlichen Erzählens fand Eingang in offizielle Dokumente. Wie andere autoreflexive Ausdrucksformen geben Ego-Dokumente in ihrer jeweiligen Versprachlichung, in ihrer Medialität und soziohistorischen Gebundenheit Aufschluss über Wissenskulturen nicht nur eines dokumentierten, sondern auch eines sich selbst produzierenden und reflektierenden Selbst. Wie private und öffentliche Formate auch, unterliegt die Mischform des Ego-Dokuments historischem Wandel. Mit Emails und Blogs etwa sind am Ende des 20. Jahrhunderts neue Formen mit (auto-)biographischen Gehalt entstanden. Es lohnt also, die Manifestationen des Selbst in Bezug auf Wissen-Technik-Relationen im Medienwandel zu befragen. Nicht zuletzt sind die sich stetig weiterentwickelnden Wissensformate der Selbstverständigung Ausdruck einer Entwicklung, die zugleich der Produktion wissenschaftlichen Wissens Anpassungsbewegungen abverlangt.
Der interdisziplinäre Workshop Das dokumentierte Ich. Wissenskulturen und -medien im Wandel setzt 25 Jahre nach Schulzes „Annäherungen an den Menschen in der Geschichte“ hier an und fragt nach den Potentialen und Limitationen von wissenshistorischen und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen, die sich auf Ego-Dokumente stützen. Thema des Workshops ist erstens, wie Kultur- und Geschichtswissenschaft neue (auto-)biographische Gattungen wie Emails und Blogs, Videoaufzeichnungen (z. B. von Interviews) und Homestories kontextualisieren, interpretieren und in wissenschaftliches Wissen einbinden: Welche Veränderungen ergeben sich im Medienwechsel und durch technisch-mediale Neuerungen? Führen neue Veröffentlichungsmöglichkeiten zu einer Erweiterung des Kreises der „Geschichtsfähigen“? Sollte die Kategorie Ego-Dokument über Schulzes Definition hinaus erweitert oder eingeschränkt werden? Zweitens fragt der Workshop nach aktuellen und vergangenen Spannungsfeldern, die zwischen Ego-Dokumenten und dem Wandel von Wissenskulturen und -medien bestehen. Welches Wissen ist jeweils in Verhandlung? Wie hängt die Subjektwerdung mit dem Wissensmedium zusammen? In welchen Beziehungen stehen Wissen, Medium und Dokument?
Im April 2016 fand unter der Überschrift „Wissenskulturen – Chancen und Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Wissensforschung“ bereits ein Workshop der neu gegründeten Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft, Sektion „Wissenskulturen“, im interdisziplinären Zentrum für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck (ZKFL) statt. Im Zürcher Folge-Workshop soll der medial-technische, wie auch der narrative und wissenshistorische Wandel in den Fokus gerückt werden.
Freitag, 21. April 2017
Samstag, 22. April 2017
Die Tagung wird organisiert von der Professur für Technikgeschichte der ETH Zürich, dem Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich und dem Zentrum „Geschichte des Wissens“ (ETH und Universität Zürich) in Kooperation mit der Sektion „Wissenskulturen“ der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft KWG.
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